Ein Suizid… viele Fragen… und die Schweigepflicht

Seit langem wieder mal ein Blogeintrag hier. In letzter Zeit war mir das Bloggen eher eine Mühe geworden, der ich mich nicht unterziehen wollte. Warum regelmäßig meine Gedanken in die Welt hinausposaunen anstatt öfters inne zu halten und in die Öffentlichkeit hinein zu schweigen?  Wird doch überall genug geredet, oft genug leider nicht so, dass es zu mehr Verständnis, Toleranz, Mitgefühl und Kooperation führt. Und unter einem Mangel an Kommunikation leide ich ganz gewiss nicht, weder beruflich noch privat.

Der tägliche Diskurs wird oft genug von Aufgeregtheit und Schreihälsen überladen. Stimmen, die sich besonnen und mit einem freundlich ausgerichteten kooperativen Geist zu Wort melden, sind mir um so wichtiger, je lauter Menschen werden, die sich komplexe Situationen und Gemengelagen populistisch zu Nutze machen, sei es laut und dumpf oder auch vorsichtig und listig.

Eine Stimme der Vernunft und der Besonnenheit, dabei kritisch und engagiert, ist kürzlich für immer  verstummt. Johannes Korten, den ich nur durch seinen hervorragenden Blog „Jazzlounge“, einige persönliche Mails und einige Telefonate im Zuge einer Werbekampagne, die mein früheres Unternehmen für die GLS-Bank abwickelte, her kannte, ist am 25.7. verstorben mittels Suizid.

Schock über Suizid

Dieses Ereignis, welches er in seinem letzten Blogbeitrag ankündigte und was sich Stunden später schockierend bewahrheitete, hat mich sehr beschäftigt und bedrückt und obgleich es wahrlich nicht der erste Tod eines Bekannten- nah oder fern – durch Suizid ist,  dessen ich gewahr werde, bleiben Traurigkeit, Fragen über Fragen und eine gewisse Unbegreiflichkeit. Und auch Zorn. Nun ist meine Befindlichkeit und mein Umgang damit nix für die Öffentlichkeit via Blog und ich konnte mich glücklicherweise privat darüber austauschen.

Der Zorn aber kann hier gut Thema sein. Mein Zorn richtet sich auf diejenigen, die immer noch und immer wieder ihre Missachtung des Phänomens Depression ausdrücken. Seit gestern weit vorn in dieser Hinsicht steht der Innenminister Thomas De Maizière, der Pläne hegt, die Schweigepflicht von Ärzten und Therapeuten einzuschränken, um mehr Sicherheit vor Amokläufen zu haben. Der Präsident der Psychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, erläutert, warum dieser Plan erstens Humbug und zweitens gefährlich ist.

Nun könnten Sie sagen, dass der Innenminister ja nicht die Schweigepflicht bei Depression aufheben will sondern nur bei besonders schweren Fällen, in denen Gefahr im Verzug ist, jemand könnte Amok laufen, und dass es deswegen für das Phänomen Depression gar nicht von Bedeutung sei…

Stigmatisierung von Depression

Doch, das ist es sehr wohl. Wie schnell geht die Stigmatisierung vonstatten? Rasant geht sie vonstatten, behaupte ich. Wie wird Depression hierzulande in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und wahrgenommen?

Aufgeregt, wenn ein/e Prominente/r das eigene Leben beendet. Dann heißt es, wir müssten alle viel mehr drüber reden. Im Ernst:  Ist der Impuls des „Wir-müssen-viel-mehr-drüber-reden“ nicht spätestens zwei Wochen später wieder versandet?

Genervt, wenn Menschen es wagen, über die eigene Depression zu sprechen. Das möchten viele dann lieber doch nicht so genau wissen. Vielleicht wird erst zugehört, aber schon bald wird es zu anstrengend.

Stigmatisierend und abfällig, wenn Menschen mit psychischen Schwierigkeiten im Fernsehkrimi, in der Boulevardpresse leichthin als Bösewichte herhalten müssen, denen recht problemlos grausige, sogenannte „unmenschliche“ Taten, mindestens aber sozial schädigendes Verhalten angedichtet werden können.

Haben Sie Depressionen? Ist Ihnen die Schweigepflicht wichtig? – Ich nehme an, viele Betroffene werden mit „Ja“ antworten.

Und diejenigen, die sich als nicht betroffen von Depression sehen: Ist Ihnen die Schweigepflicht über Ihren Gesundheitszustand wichtig? – Ich nehme an, viele von Ihnen werden mit „Ja“ antworten. Dann werden Sie in der Lage sein, zu verstehen, warum von Depression betroffenen Menschen (sind übrigens nicht nur die ursächlich Betroffenen selbst sondern auch ihnen nahe stehende Menschen) dies wichtig ist.

Wenn Sie Depressionen oder Angstzustände oder Zwangsgedanken haben oder hatten, werden Sie eventuell erlebt haben, dass es gut war, sich jemand anvertrauen zu können, nicht nur einem Freund oder einer Freundin, sondern einer Person, die sich mit einer professionellen Distanz und dennoch mitfühlend mit Ihnen austauscht. Sie werden wissen, dass es dafür ein Vertrauensverhältnis braucht, damit Sie sich zu öffnen vermögen, damit Sie überhaupt den Raum finden, wo Sie sich in der Lage fühlen, damit zu arbeiten und Alternativen zu Ihrem Erleben und Denken zu finden.

Versetzen wir uns, so wenig weit dies überhaupt möglich ist, einmal in die Rolle eines jungen Menschen, der eine Nähe zum Amoklauf verspürt. Falls dieser Mensch das Bedürfnis hat, darüber zu sprechen und sich nicht nur in sozialen Netzwerken dazu äußern mag, dann ist ein gewisses Vertrauen in die Person, der er/sie sich öffnen würde, vermutlich entscheidend, oder? Was passiert mit diesem Vertrauen, wenn die Schweigepflicht weiter beschränkt würde (sie ist ja bereits im Sinne des Schutzes anderer Werte beschränkt, siehe o.a. Interview)?

Utopie: Handfeuerwaffen abschaffen – Aber… am Waffenhandel wird gut verdient

Nun ein utopischer Gedanke:

Handfeuerwaffen abschaffen und die Produktion auf zivile Güter umstellen (letzteres von mir aus auch mit satten Subventionen vom Staat). So etwas würde wahrscheinlich einige Zeit dauern, bis alle Handfeuerwaffen (zumindest in privaten Händen) verschrottet sind. 20 Jahre? Mehr? Ich weiß nicht… Und auch dann gäbe es noch PKWs, LKWs, Stichwaffen usw., mit denen sich Amokläufe unternehmen ließen, klar. Aber es führt kein Weg dran vorbei: Der Vertrieb von Handfeuerwaffen ist ein Umstand, der Amokläufe etc. etc. erheblich begünstigt. Das mag wie eine Banalität, wie ein kindischer Gedanke klingen – ich sagte eben: ein utopischer Gedanke – aber damit will ich darauf hinweisen, dass sich hierzulande ganz schwer getan wird, hart zu benennen, wo eine massive Verantwortlichkeit für Tötungen vielfältiger Art liegt: Dort, wo reizvolle Gewinne damit erzielt werden, dass Handfeuerwaffen (vom offensichtlich sehr einträglichen Geschäft mit Kriegswaffen will ich hier gar nicht noch anfangen) entwickelt, produziert und vertrieben werden. Das Ganze ist so offensichtlich, dass es noch nicht einmal mehr grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Benennen wir es doch mal klar und deutlich: Einerseits die Schweigepflicht von Psychotherapeuten einzuschränken, um eventuell mehr Zugriff auf potentielle Amokläufer zu haben und andererseits stillschweigend oder laut begrüßend zu akzeptieren, dass in diversen Staaten (u.a. Deutschland) enorm viel Geld mit der Herstellung und dem Verkauf von Handfeuerwaffen gemacht wird, ist ein super Beispiel für das Sprichwort „Den Splitter im Auge des Anderen sehen, den Balken im eigenen aber nicht“.

Populismus? Nein, finde ich nicht.

Kapitalismuskritik? Ja, denke ich schon.

Ende des utopischen Gedankens und der Herleitung dazu.

Fachleute halten nervliche Gesundheit der Bevölkerung für arg bedroht

Zurück zum Thema Depression. Wenn wir den Fachleuten glauben dürfen, die den „Aufruf zum Leben“ gestartet haben, steigt die Zahl von Depressionen und anderen psychischen Instabilitäten stetig und bemerkenswert an. Können Sie das auch bestätigen aus Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich kann es bestätigen. Meines Erachtens braucht es viel mehr Zuhören, viel mehr offene Ohren und viel mehr Vertrauen, um Menschen zu ermöglichen, über ihre Depressionen oder anderen Instabilitäten zu sprechen. Es braucht eine Kultur, in der Akzeptanz und Respekt denen gegenüber herrscht, die darunter leiden, damit es uns allen besser gelingt, damit umzugehen und zu einer gesünderen Bevölkerung und gesünderen Gesellschaft zu kommen. Die Schweigepflicht von Ärzten und Therapeuten zu bedrohen, ist „dumm Tüch“, wie in Norddeutschland gesagt wird, dummes Zeug.

Letztlich weiß ich nicht, ob Johannes Korten Depression gemeint hat, wenn er von dunklen Momenten und seinen Dämonen sprach. Ich weiß aber, dass er in seinem Abschiedsblog geschrieben hat, dass er den Wunsch hat, dass Menschen einander besser zuhören mögen. Das geht übrigens nicht nur über die Ohren, sondern auch über das Herz. Ich erinnere an Antoine de Saint-Exupery: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

Vertrauen haben können, gehört unmittelbar und untrennbar dazu.

In diesem Sinne einen nachdenklichen Abend wünscht Euch und Ihnen

Jens Gantzel

Rest in peace, Johannes Korten

p.s.: hier Links zu einigen Blogartikeln, in denen ich Johannes Korten rebloggt habe sowie  Tobi Katze, dem es ein großes Anliegen ist, dass Depression besser verstanden wird und der sich mit seinem Blog ausgezeichnet darum verdient gemacht hat.

Zu Hannes Korten:

Reblog: Johannes Korten – Im Tal der Dämmerung : : Die Sache mit der gewaltfreien Kommunikation

Empathie und Perspektivübernahme – Reblog eines wichtigen Artikels von Hannes Korten

Reblogged: Johannes Korten – Vom Siechen der Griechen

Reblogged: Von Wut und Enttäuschung (jazzlounge auf www.jazzblog.de von Johannes Korten)

Zu Tobi Katze:

Reblog: Tobi Katze – Offener Brief an Ronja von Rönne

Reblog: Tobi Katze – Meinungsbilderung

Reblogged: Kliniktagebuch von Tilman Döring im Blog von Tobi Katze

Reblogged : Tobi Katze – Hochsensibel, nicht höchst sensibel

Und noch mehr zum Thema, von mir:

Eine Sau durch’s Dorf treiben

„HASSUNPROBLEMODERWATT?!!“ – Wir brauchen eine Allgemeinbildung in Psychologie!

Angst, Angst, Angst…